„Brrr, ist das kalt hier“, bibberte Theo und klapperte mit seinen Zähnchen. Der kleine Biber mochte den eisigen Winter gar nicht gerne, obwohl er durch seinen dichten Pelz gut geschützt war. Aber dieser Polarwind und dieses olle Schneegestöber – nein, das behagte ihm ganz und gar nicht. „Man müsste eben im Süden leben“, schrie Theo gegen den noch immer stark pustenden Wind an. „Da ist es wenigstens warm und kuschelig.“
„Kak-kak-kak – da hast du aber wirklich recht, kleiner Biber!“,
tönte auf einmal eine krächzende Stimme von oben.
Theo schaute in den Himmel – nichts zu sehen. „Kak-kak- hier drüben, ganz oben, im Baum sitze ich, siehst du mich?“
Und dann sah Theo ganz genau hin und entdeckte ihn, diesen komischen Vogel: er war ungeheuer groß, bestimmt einen Meter, und hatte einen langen, gänseartigen Hals. Weiße Flaumfedern bedeckten seinen Kopf und schmückten seinen Hals wie ein schicker Kragen. „Seine Augen sehen irgendwie traurig aus“, dachte sich Theo bei näherer Betrachtung. „Und der krumme Schnabel macht auch nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck.“ Aber, neugierig wie unser Theo nun einmal ist, ließe er sich seine Furcht vor dem großen Tier nicht anmerken und stapfte mutig zum Baum hinüber.
„Wer bist du denn, so einen komischen Vogel wie dich habe ich hier an meinem Thumsee ja noch gar nie nicht gesehen!“, rief Theo hinauf.
„Ich bin Hänsel, ein Gänsegeier und habe überlegt, mich hier vielleicht niederzulassen - aber das mag ich jetzt dann lieber doch nicht mehr“, schluchzte der Geier auf einmal los und segelte mit seinen großen, weiten Flügeln hinunter zu Theo. Hui, der war ja noch riesiger als gedacht! Theo musste den Kopf schon weit strecken, um mit Hänsel sprechen zu können. „Warum möchtest du denn nicht hier bleiben, am Thumsee ist es doch wunderschön, ich könnte mir gar nicht vorstellen, woanders zu leben, ich liebe es hier“, sagte Theo. Hänsel beugte seinen langen Hals herab: „Ja, du hast gut lachen, du bist ein putziger, kleiner, netter Biber, dir tut ja keiner was. Aber ich, ja ich bin ein unansehnlicher, hässlicher Gänsegeier, den keiner mag und alle haben Angst vor mir, weil ich so groß bin.“ Theo sah sich Hänsel noch einmal ganz genau an – von vorne, von hinten und von der Seite – er spazierte einmal ganz um den Geier herum.
„Was machst du da?“, fragte Hänsel. „Willst du dich auch lustig machen und mich hänseln, wie die olle Krähe gestern?“ „Den Hänsel hänseln!“ – Was für ein unabsichtliches, lustiges Wortspiel „Hänsel hänseln“, das reimte sich ja auch noch - Theo versuchte, sich das lachen zu verkneifen, aber er schaffte es nicht und musste laut losprusten. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen kamen. Hänsel sah ihn an und kam erst jetzt darauf, was er da eigentlich gesagt hatte. „Hihii, ich heiße Hänsel und werde gehänselt, na, das ist ja kein Wunder, bei dem Namen“, stimmte er in das Lachen von Theo mit ein.
„Aber trotzdem ist es gemein, wenn man wegen seines Aussehens geärgert wird“, sagte Theo. „Ich mag dich, du bist sehr nett“, freute sich der Gänsegeier. Und dann erzählte er, dass er nie richtige Freunde finden konnte aufgrund seiner mächtigen Erscheinung. „Die kleinen Tiere flüchten und die großen Exemplare wollen einfach nur mit mir kämpfen – und das mag ich dann aber so gar nicht“, erklärte er Theo. Der kleine Biber sah Hänsel freundlich an und sagte mit ernstem Ton: „Ich würde gerne dein Freund sein, du bist ein echt cooler Vogel, finde ich.“ Hänsel freute sich so sehr, dass er auf eine gewagte Idee kam: „Du, Theo – wenn wir jetzt Freunde sind – magst du nicht mal mit mir fliegen?“
Theo konnte kaum glauben, was er da gehört hatte – fliegen! Er, der kleine Biber vom Thumsee würde abheben und durch die Lüfte schweben! „Au ja, bitte, bitte ja!“, schrie Theo vor Glück. „Na dann los, bitte aufsitzen, ich versuche mich ganz klein zu machen, damit du auch gut hinauf kommst!“
Der Biber nahm all seinen Mut zusammen, atmete noch einmal tief durch und schwang sich dann mit einem großen Hüpfer auf den Rücken des Gänsegeiers. „Halt dich gut an meinen Federn fest, es geht loooos“, rief Hänsel. Fast majestätisch bewegte er seine Flügel auf und ab und schon waren die beiden in der Luft. Immer höher und höher stieg der Gänsegeier hinauf und der Thumsee, die verschneite Pankrazkirche, die Burgruine Karlstein, die ganze Stadt wurden immer kleiner. Fast wie Spielzeug sah das von hier oben aus. Theo konnte gar nicht sagen, vor Staunen stand ihm der Mund weit offen. So etwas hatte sicher noch kein Biber vor ihm erlebt!
Jippieeehhh!
Nach einem kurzen Rundflug setzte Hänsel seinen Freund direkt am Biberbau bei seiner Familie ab. Die staunte nicht schlecht, als sie Theo auf dem Geier einfliegen sahen! Theo stellte Hänsel artig Papa und Mama vor, die in gehörigem Abstand ein wenig ängstlich, aber freundlich winkten. „So, lieber Theo, ich muss jetzt los, aber morgen sehen wir uns wieder, mein Freund“, sagte Hänsel und erhob sich glücklich in die Lüfte. Theo rief ihm nach: „Bis morgen, lieber Hänsel, bis morgen!“. Und seine Familie wartete schon gespannt auf die Geschichte, die Theo heute wieder zu erzählen hatte.
Bis bald, kleiner Biber!